Es braucht einen Chef
Gedanken über eine stark befahrene Autobahn in unserem Gehirn und die eidgenössische Volksabstimmung vom 4. März
Anfangs März 2018, in einem Restaurant beim Zürcher Hauptbahnhof – dort wo sich
unser Human Resources Netzwerk einmal im Monat zum Lunch trifft. Ein Kollege erzählt
von einem Kunden mit einer Dreierführung, die nicht zufriedenstellend klappt, da die drei
Gesch.ftsführer «es nicht so gut miteinander können». Sein Fazit: «Es braucht einen
Chef.» Eine Kollegin doppelt nach: «Die Situation ist klar: es braucht einen Chef, der
entscheidet.»
Okay - warum ist diese banale Szene der Aufhänger dieses Texts? Was ist daran
erwähnenswert? Ist doch alles logisch...
Diese Szene offenbart, dass auch bei HR-Fachleuten der Verkehr im Gehirn auf der
achtspurigen Autobahn rollt: «Es braucht einen starken Chef, der entscheidet.»
«Empowerment» (Ermächtigung, Mitwirkung ermöglichen) bekommt zwar immer mal
wieder ein Plätzchen in Leitbildern und Wertekatalogen von Firmen, aber in unserem
Gehirn ist es noch ein staubiges Strässchen zwischen Maisfeldern.
Die übliche Frage lässt nicht lange auf sich warten: «Ja wer soll denn dann entscheiden,
wenn nicht der Chef?».
Bemerkenswert, dass diese Frage gleichermassen auch von uns Schweizerinnen und
Schweizern gestellt wird – wir, die wir es in den Genen haben, dass das Volk der Chef
(«der Souverän») ist. Dass wir mündige Bürger/innen sind und dementsprechend über
unser Geschick selbst entscheiden. Aber kaum wechselt der Kontext von der Politik zum
Business, werden diese Gene übersteuert vom kollektiven Mindset (um nicht zu sagen
«von der kollektiven Verblendung»), dass es eine starke Person braucht, die entscheidet.
Worum geht es nun also konkret? Es geht darum, dass...
- bevor für den abtretenden Chef einfach ein neuer Chef gesucht wird
- bevor bei Konflikten, Krisen oder Problemen nach einem starken Führer gerufen
wird
- bevor die Mitarbeitenden in einer Kultur von Bevormundung, Druck und Kontrolle
ausbrennen
- bevor die Menschen in den Firmen ihren Unternehmergeist, ihre kreative
Schaffenskraft und ihre Genialität auf dem Altar der Compliance («Regeln
befolgen») opfern
...ernsthaft der Gedanke gedacht wird, die Teams in die Selbstorganisation zu führen, sie
wirklich zu empowern und diesen englischen Begriff von seinem warmen Plätzchen im
Leitbild weg in die gelebte Praxis zu führen. Das Konzept ist simpel, die Umsetzung aber
nicht so einfach, denn auch in den Gehirnen der Mitarbeitenden verirrt sich kaum mehr
ein Auto auf den Staubsträsschen «Engagement», «Verantwortung übernehmen» und
«unternehmerisch denken und handeln». Der jährliche erhobene Engagement-Index von
Gallup zeigt, dass rund 70% der Beschäftigten nur eine geringe emotionale Bindung zum
Arbeitgeber haben und lediglich Dienst nach Vorschrift machen.
Die Schweizer Bevölkerung hat am 4. März 2018 einmal mehr bewiesen, dass sich bei
wichtigen Entscheidungen an der Urne nicht Egoismus und kurzfristiges Denken
durchsetzen, sondern das Gemeinwohl und hohe Werte: die Meinungsfreiheit mit
unabhängigem Journalismus und die Solidarität mit Minderheiten im Land. Und dies mit
grosser Mehrheit von 71,6%.
Und warum soll das in Unternehmen nicht genauso funktionieren? Dass die
Mitarbeitenden weise Entscheidungen zum Wohl des Unternehmens treffen? Man muss
ihnen nur die Mit-Verantwortung für das grosse Ganze vertrauensvoll übergeben!
«Das Führen von Menschen ist nur dann legitim, wenn es die Selbstführung zum Ziel
hat.» Götz W. Werner, Gründer von dm-drogerie markt
März 2018, Peter Wyss